Mit großen Meriten
Kopfhörer unterscheiden sich in ihren elektrischen Parametern wesentlich stärker voneinander als Lautsprecher, deshalb empfiehlt sich für sehr hochwertige Modelle unbedingt der Einsatz eines separaten Kopfhörerverstärkers, dessen Schaltung auf die Bedürfnisse von Kopfhörern zugeschnitten ist und sich an unterschiedliche Wirkungsgrade und Impedanzen anpassen lässt. Anderenfalls muss einfach ausprobiert werden, inwieweit eine integrierte Kopfhörerverstärkerstufe harmoniert, in unserer Praxis hat sich der hochohmige HD 800 hinsichtlich geeigneter Spielpartner als nicht wählerisch erwiesen, die sehr spannungsstabile und aufwändig konstruierte Kopfhörerstufe des Vollverstärkers Audia Flight Three beispielsweise gereicht dem HD 800 locker, sich sehr nahe an sein klangliches Optimum heran zu entfalten. An den Kopfhörerausgang der Audionet-Vorstufe Pre I G3 angeschlossen fühlt sich der Sennheiser erst recht pudelwohl, klingt nun noch ausgewogener und kraftvoller. Den dritten Antreiber für den AV-Magazin-Hörtest machte der auch von Sennheiser selbst für Vorführungen eingesetzte Kopfhörerverstärker Lehmann Linear - genug der Technik, HD 800 aufsetzen und anschnallen...
Um zunächst die Tieftonfähigkeiten des HD 800 auszuloten, greife ich mal wieder zu einer diesbezüglich sehr zweckdienlichen und musikalisch zu meinen Favoriten aus dem Reich elektronischer Musik zählenden Vinylscheibe: Kraftwerks „Tour de France“. Einige Sequenzen dieses Albums verlangen einer Wiedergabekomponente das gesamte Tiefton-Repertoire ab: Sowohl wirklich abgrundtiefe, trockene als auch pumpende, blubbernde Bassläufe erfordern Druck und Differenzierungsvermögen bei Klangfarben gleichermaßen - und das oft auch noch gleichzeitig. Der Sennheiser HD 800 agiert hierbei völlig souverän, schiebt sehr druckvoll und absolut sauber jeden Impuls in die Gehörgange. Durch seine sehr lineare Abstimmung spielt er besonders im Tieftonspektrum trockener als elektrostatische Kollegen, vernachlässigt bei aller Unbestechlichkeit jedoch nie Atmosphäre oder einen Hauch Wärme, wenn sie denn aufnahmeseitig vorhanden ist.
Wer nicht vorher auf die Idee gekommen ist oder auf den Hörmuscheln gelesen hat, dass „HD“ für „High Definition“ steht, weiß dies nach den ersten Tönen von Maria Menas aktuellem Album „Cause And Effect“; wenn ich sage, dass mir sofort ein bildhafter Eindruck jeder Kopfneigung, jedes Einatmens und jeder Lippenbewegung des norwegischen Nachwuchstalents vor dem Studiomikrofon entstand, ist das keine Rhetorik. Auflösungsvermögen, Offenheit und tonale Neutralität des Sennheiser sind schlicht phänomenal, wie auch eine 1996 im Warehouse-Studio in London mit dem London Festival Orchestra unter der Leitung von Ross Pople eingespielte Interpretation des satirischen „Le Carnaval des Animaux“ von Camille Saint-Saens zeigt.
Die Eindringlichkeit des Sennheiser HD 800 involviert seinen Träger derart stark in die Musikwiedergabe, dass beiläufige Berieselung praktisch unmöglich wird. Wer diesen Kopfhörer aufsetzt, sollte bereit sein, ganz in die Intensität von Musik gezogen zu werden, aber dafür wird High End doch gebaut, oder?
Hervorragende Kopfhörer zeichnen sich natürlich immer durch eine ganz eigene Intimität und Direktheit aus, doch der HD 800 schafft es diese unvergleichliche Nähe zum Klanggeschehen in besonderem Maße herzustellen, ohne dabei allzu gattungstypisch distanzlos zu werden. Bei kleineren Besetzungen und Aufnahmeräumen nähern sich die vom HD 800 vermittelten Abstände zwischen Instrumenten und die gehörten Raumabmessungen gar den realen Verhältnissen an; um dieses Ergebnis mit Lautsprechern zu übertreffen, bedarf es schon einiger Aufwendungen bei der Wahl der Schallwandler, der Elektronik und der Optimierung des Hörraums. Kompliment: Der Sennheiser HD 800 ist ein rundherum gelungener Kopfhörer, dessen Wiedergabequalität sich als Plädoyer für seine Gattung eignet und durchaus eine Alternative zu sehr hochwertigen Lautsprechern bietet.