VTL IT-85: Röhren-Verstärker in der Praxis
Für den klassisch zweikanaligen Musikgenus wartet der IT-85 mit einem Kopfhörerausgang auf, der standesgemäß mit einer 6,35-mm-Klinke ausgeführt ist. Der dahinterliegende Kopfhörerverstärker ist dafür ausgelegt, auch hochohmige Exemplare adäquat zu betreiben; zu diesem Zweck wird die Schaltung von der Ausgangsstufe angesteuert und vom Ausgangstrafo der Endstufe mit Spannung versorgt. Der Vorstufenausgang schaltet sich ab, sobald ein Kopfhörer angeschlossen wird; die Lautsprecherausgänge werden mithilfe des entsprechenden Wahlhebels deaktiviert. Sehr umsichtig gelöst: Damit immer eine Last an der Ausgangsstufe anliegt, schaltet sich die Kopfhörerstufe automatisch ab, falls das Kopfhörerkabel aus der Buchse gezogen wird und der Wahlschalter nicht vorher auf die Lautsprecherausgänge zurückgestellt wurde. Der selbst formulierte Anspruch, Röhrentechnik benutzerfreundlich zu machen, ist somit allemal voll erfüllt.
Hörtest
Da wir ein eingespieltes Gerät erhalten haben, kann es nach einer kurzen Aufwärmphase gleich mit dem Hörtest losgehen. Zur lockeren Einstimmung läuft über Tidal zugespielt der Sampler »Members of the Oceanclub«, der erstmalig 1996 zwei Jahre nach der Eröffnung des legendär gewordenen Berliner Clubs erschien. Leider ist die Produktion dynamisch etwas flach geraten, doch der IT-85 lässt sich dessen ungeachtet nicht nehmen, das Beste daraus zu machen: Bei »Butterfly«, das Gudrun Gut zusammen mit Inga Humpe singt, bringt der Groove den Fuß zum Wippen, während schwarz eingefärbte, voluminöse Beats herrlich locker federn. Die ätherische, schwebende Synthesizer-Melodie, vom VTL auf hinreißende Weise akzentuiert, tut das Übrige - die nächsten anderthalb Stunden vergehen wie im Flug, in den Klängen des frühen Ambient-Clubsounds schwelgend. Danach will ich unbedingt wissen, wie sich eine hervorragende, außergewöhnlich stimmungsvolle Electro-Produktion mit diesem Amp anhört, deshalb liefert Tidal jetzt John Digweed »Live In Tokyo« (2018) an. Der IT-85 agiert hierbei wieselflink, greift auch subtile Spannungsbögen auf und macht die aufwendig arrangierten, weitläufig angelegten Klangpanoramen zu einem dreidimensionalen, wahrhaft raumgreifenden Erlebnis. »Erschwerend« kommt seine außerordentlich atmosphärische Spielweise hinzu: Ich habe dieses Meisterstück ambitionierter elektronischer Musik schon häufig in voller Länge und in vollen Zügen genossen, aber es hat mich nie zuvor derart intensiv berührt. Der IT-85 beraubt mich bei diesem Werk jeden Zeitgefühls und spielt bedingungslos involvierend, nach dieser vierstündigen Session fühle ich mich tatsächlich gleichermaßen ausgelaugt wie energetisiert.
Der Techno-Track »As Wild As You Wanna Be« von Deborah de Luca ist wie geschaffen, um die Fähigkeiten des VTL in den untersten Oktaven auszuloten. Nachdem der Titel dieses Stücks beim Bedienen des Lautstärkereglers meinerseits als Aufforderung verstanden wurde, demonstriert der IT-85 hierbei exemplarische Kontrolle, platziert abgrundtiefe, voluminöse Bassläufe mit frappierender Lässigkeit. Zeit für Handgemachtes: »Pariah« aus dem Album »To The Bone« von Steven Wilson. Der IT-85 fasst diese wunderbare Rock-Ballade mit besonderem Fingerspitzengefühl an, lädt sie atmosphärisch auf, dass die Luft knistert. Zudem kann er die unverwechselbare, faszinierende Gesangstimme von Ninet Tayeb in all ihren Facetten darstellen und diese ungeheure Anziehungskraft, die von ihr ausgeht, voll entfalten. Wenn sich gegen Ende des Songs mit einem Mal die ganze Spannung entlädt, spielt der kleine VTL völlig entfesselt, hat seine helle Freude am sirrenden Gitarrenriff und schiebt ein knochentrockenes Bass-Brett mit unbändiger Kraft in den Raum - grandios!
Audiophil
Tord Gustavsen hat mit seinem langjährigen Weggefährten Jarle Vespestad und Steinar Raknes, der erstmalig für das Trio am Bass steht, im vergangenen Jahr ein neues Album eingespielt. »Opening« wurde von Manfred Eicher im Auditorio Stelio Molo in Lugano aufgenommen und erfüllt erneut die hohen klanglichen Erwartungen, die erfahrungsgemäß an ECM geknüpft sind. Für den IT-85 eine willkommene Gelegenheit, seine musikalischen Qualitäten auszuspielen. Er stellt die Musiker auf eine realistisch dimensionierte Bühne, die bis in die Tiefe hinein präzise gestaffelt und taghell ausgeleuchtet ist. Zugleich erstreckt sich die Abbildung des Schlagzeug-Aufbaus weit über die Lautsprecherbasis hinaus, während das Piano mit messerscharf gezeichneten Konturen im Vordergrund steht. Auch in tonaler Hinsicht erweist sich der IT-85 als sehr transparent, er spielt nach oben heraus völlig offen und verleiht gestrichenen Becken herrlichen Glanz. Wenn Tord Gustavsen sich ganz in sein überaus gefühlvolles Spiel vertieft, wirkt das Geschehen wie die Begegnung zweier Feingeister. Der VTL nimmt sich jedes noch so kleinen melodischen Fragments voller Behutsamkeit an und entfaltet eine wahre Klangfarbenpracht, die von einer völlig natürlich klingenden Grundtonfülle ausgeht. Der tiefenentspannenden Wirkung dieser Musik unmittelbar ausgesetzt, wird mir vor allem eines bewusst: Der IT-85 ist einer jener Amps, die das Gefühl vermitteln, angekommen zu sein.